Andreas A. Berse
· 27.11.2023
Das ist so, als würdest du beim Start in Le Mans ganz weit hinten loslegen. Stell dir vor, du bist Porsche-Fan und wohnst 1978 in der DDR, im Lausitzer Bergland, am Dreiländereck nahe Polen und der Tschechoslowakei. Und du magst einfach Rennwagen. Dann bist du von deinen Träumen ungefähr so weit weg wie Porsche in den Fünfzigern von einem Gesamtsieg bei den 24 Stunden von Le Mans. Aber: Solche Träume können trotzdem wahr werden. Der Wunsch nach einer Begegnung mit einem echten Porsche-Rennwagen blieb für Lothar Wünsche kein unerfüllter Traum. Denn an der Tvrzova 5 in Most im heutigen Tschechien lag schon 1978 eine Rennstrecke. Das waren damals für Lothar Wünsche nur etwas mehr als 120 Kilometer Anreise, und das bedeutete einen Grenzübertritt, der machbar war.
"Irgendwann wollte Lothar Wünsche nach einer kreativen Modellbauer-Karriere Miniaturen fertigen, die kein anderer in der Vitrine stehen hat. Er entschied sich für den Maßstab 1:5 und Eigenbauten: „So macht Porsche schließlich auch seine Windkanalmodelle.“
Zweierlei hatte der rührige heute 78-Jährige schon damals im Übermaß: Improvisationstalent sowie Geduld. Zur letztgenannten Eigenschaft merkt er süffisant an: „Wir hatten ja in Ostdeutschland gelernt zu warten. Auf den Trabbi zwölf Jahre!“ Als 1978 am 12. August in Most die Interserie zu Gast war und das entsprechende Rennen über die Bühne ging, lief Lothar Wünsche nicht nur auf den Tribünen herum: „Mein Plan war klar: Du darfst jetzt nicht schüchtern sein! Damit fing eigentlich alles an.“ Der Fan aus Ostdeutschland wurde herzlich begrüßt, und es sollte nicht seine letzte Begegnung mit der Zuffenhausener Rennfamilie bleiben.
Der Porsche 908 mit der Startnummer 29, der Filmwagen, der 1970 unterwegs war für Steve McQueens Projekt, hat sagenhafte 1600 Bauteile, insgesamt drei Arriflex-Kameras an Bord und deshalb einen modifizierten Rahmen
Lothar Wünsche feierte in diesem für ihn historischen Jahr seinen ersten Sieg: Er war im Windschatten seines Traums Porsche angekommen, und auch noch gleich mit den Menschen aus dem Rennteam in Tuchfühlung. Ab diesem Moment standen Porsche-Modelle in seinem Fokus. In der DDR Mangelware! Also tauschte man. So nach dem Motto: Einen Tamiya-Bausatz vom Porsche 935 in 1:12 gibt es gegen Hochprozentiges, etwa sechs bis zehn Flaschen Wodka. Bei Bausätzen war für Wünsche immer eines klar: Er fertigte sie nicht einfach nach der Bauanleitung aus dem Karton, sondern perfekt, genauso wie er sich das vorstellte. Auch die Kontakte zum Haus Porsche wurden enger. Und das half ihm bei seinen Projekten weiter.
2007 dann der radikale Schnitt: „Ich wollte nichts mehr in der Vitrine stehen haben, das jeder hat. Ich wollte eigene Modelle bauen, die mir gefallen. Und zwar in 1:5, so wie Porsche seine Windkanal-Modelle anfertigte.“ Über 20 Stück dieser riesigen Miniaturen hat Wünsche bisher gebaut. Alle komplett in eigener Regie. Wer die Werkstatt betritt, kann kaum glauben, dass hier solche Wunderwerke mit bis zu 1600 Bauteilen entstehen. Lothar Wünsche, gelernter Schlosser und lange in der Montage von Aufzügen unterwegs: „Eine Bohrmaschine im Ständer, einen Dremel-Mini-Bohrer und meine Laubsäge. Viel mehr brauche ich nicht.“
In der ehemaligen Küche der Mutter entstehen die 1:5-Boliden quasi aus dem Nichts im Eigenbau. Auch Motoren zum Porsche 917 fertigt Wünsche dabei nach und beweist so seinen modellbauerischen Erfindungsreichtum.
Wünsches 1:5-Fuhrpark ist groß. Das älteste Porsche-Vorbild liefert der 550/1500 als Coupé von 1956 mit der Startnummer 25, der in Le Mans Fünfter wurde. Ebenfalls in schimmerndem Silber tritt der Porsche 904/6 mit der Nummer 32 an, den Herbert Linge und Peter Nöcker an der Sarthe auf Rang vier fuhren. Gefolgt vom Le-Mans-Carrera 906 mit der Nummer 58, Siebter im Rennen 1966, dem 908/02 Langheck von 1970, Nummer 27, Dritter im Rennen an der Sarthe und dem weltberühmten Kamerawagen, einem 908/02 in Blau mit der 29. Aus ihm heraus entstanden Aufnahmen für den Hollywood-Film „Le Mans“ mit Steve McQueen. Dieses 1:5-Modell ist das detaillierteste, es besteht aus unglaublichen 1600 Teilen.
Groß ist das Starterfeld beim Thema 917. Neben dem Siegerwagen von Herrmann und Attwood von 1970 in Le Mans mit der 23 hat Wünsche auch das zweitplatzierte Langheck mit der Startnummer 3 aus demselben Rennen verkleinert. Das Vortest-Langheck von 1970 mit der Nummer 21 steht ebenso in der Box wie der verunfallte 917/20, die „Pinke Sau“ von 1971. Weitere Le-Mans-Teilnehmer sind der Porsche 944 LM GTR Nummer 1 von 1981, der 935/78 Nummer 43 und der TWR-Porsche WSC 95, Sieger 1996 sowie der Porsche 936/77, Sieger 1977. Aus der CanAm-Serie gehen der 917/10 Nummer 7, Gesamtsieger 1972 von George Follmer und der 917/30, Gesamtsieger 1973 mit Mark Donohue an den Start. Das Starterfeld wächst schon munter weiter. Kurz vor der Vollendung steht der weiße 917 Langheck von John Woolfe. Ein weiteres Projekt ist ebenfalls schon weit fortgeschritten. Wünsche zeigte uns einen bereits fertiggestellten Rahmen: „Da sind ungefähr 20 Meter Plastikrohr verbaut.“ Die Basis für den langjährigen Distanz-Rekordhalter von Le Mans und Sieger von 1971, den Martini-Porsche von Helmut Marko und Gijs van Lennep? Die Nr. 22 fuhr in einem Tag 5335,16 Kilometer und wurde erst im Jahr 2010 von einem Audi entthront. Wünsche lächelt vielsagend!
Die Rennwagen-Rahmen bestehen aus bis zu 20 Metern Kunststoffrohr, die Finessen entstehen als Laubsägearbeiten. Das Cockpit des 917/30 und die „Pinke Sau“ sowie der Joest-Porsche WSC von 1996 sind auch deshalb geradezu unfassbare Kunstwerke.
Die Karosserieformen erschafft sich der Edel-Modellbauer in Negativ-Positiv-Technik selber – einer Spanten-Bauweise, die er mit einem speziellen Kunststoff verfüllt und dann schleift, bis die Oberflächen perfekt sind. Während die Bauteile in Eigenregie entstehen, holt sich Wünsche bei der Dekoration Hilfe: „Das ist einfach nicht mein Ding. Steffen, ein Autolackierer aus der Region, bringt die Farbe perfekt auf, und die Elisabeth, eine Werbegrafikerin, fertigt mir die Folien für die Dekoration an, die ich dann montiere.“ Auch Wünsche braucht sein Team, wie jeder echte Le-Mans-Held. Und: Porsche hilft bei den Recherchen. „Wünsche: Ohne Jens Torner vom Archiv in Zuffenhausen gäbe es fast all diese Modelle nicht.“
Noch ein anderer Traum ging für Wünsche in Erfüllung, und zwar, weil er Erwin Kremer vom gleichnamigen Rennteam bei seinen zahlreichen Besuchen an den Pisten kennenlernte: „Ich war mehrfach in Le Mans, für Kremer, in Sachen Reifen, als Monteur. Das ist heute noch für mich wie ein echtes Wunder.“
Wer entdecken möchte, wie detailgetreu Lothar Wünsche ans Werk geht, der sollte die Ehre haben, sich einmal den Filmwagen, den 908.022, genauer ansehen zu dürfen. Mit dem blauen Wagen, der 1970 in Le Mans die 29 trug, nahmen Herbert Linge und Jonathan Williams dank dreier Arriflex-Kameras die fantastischen Rennszenen auf, die im Film „Le Mans“ mit Steve McQueen zu sehen sind. Ein kleines cremefarbenes Kästchen, rechts im Bereich der Tür, ist das erste 1:5-Geheimnis. Experte Wünsche: „Damit konnten die Kameras gesteuert werden. Ich habe es sogar originalgetreu beschriftet.“ Als uns der Kenner dann die Details im Heck zeigt, die sich unter einer klappbaren Haube verstecken, kommt er wieder ins Plaudern: „Der Kamerawagen hatte wegen der beiden Arriflex einen veränderten Heckrahmen. Für die Kameras habe ich bei einer Filmschule Typ und Abmessungen recherchiert.“ Das war nicht so einfach. Hintergrund: Da es Prototypen-Kameras von Arriflex waren, die 1970 noch als streng geheim galten, durften in der Box beim Filmwechsel keine Aufnahmen gemacht werden.
Auch um Porsche-Anekdoten, die der 78-Jährige manchmal im Verlauf seiner Recherchen zutage förderte, ist der gelernte Schlosser überhaupt nicht verlegen: „Mark Donohue ließ sich in seinem Porsche 917/30 CanAm den Rückwärtsgang ausbauen. Da meinte das Team zu ihm: Aber wenn du von der Strecke abkommst? Daraufhin Donohue: Wenn ich mit diesem Monster von der Strecke abkomme, brauche ich sowieso keinen Rückwärtsgang mehr.“ Der Traum und sein Hobby haben Wünsche glücklich gemacht, und er weiß das auch zu schätzen: „Ich habe so viele interessante, nette, liebenswert verrückte Menschen kennengelernt, die mir geholfen haben. Das ist fast noch schöner als meine Armada an 1:5-Modellen in meiner Vitrine daheim.“ So ein Satz von Lothar Wünsche lässt am Ende der Les Hunaudières wunderbar die Sonne aufgehen!