Gemeinsam stärkerWie Wiking in Polen produziert

Unbekannt

 · 01.07.2021

Die Maschine, die Wiking-Lkw-Achsen automatisch montiert, hat Gründer Friedrich Peltzer in den Sechzigern erfunden
Foto: Markus Bolsinger

Zwischen West und Ost fremdelt es manchmal in Europa. Bei Wiking ist das ganz anders, wie ein Besuch vor Ort zeigt.

Das Gebäude im neu erschlossenen Industriegebiet sticht sofort ins Auge. Der 2015 errichtete Bau sieht wie ein riesiger, knallroter Quader aus, der von geometrisch geschnittenen Fensterflächen durchbrochen ist. Auch architektonisch erwartet uns also etwas ganz Besonderes an der Ulica Przemyslowa 7 in Zlotoryja. Die hochmoderne Fabrik liegt 180 Kilometer östlich von Dresden. Knapp zwei Stunden dauert die Fahrt vom sächsischen Elbflorenz nach Niederschlesien. Zunächst geht es über eine bestens ausgebaute Autobahn, dann knapp 15 Kilometer über kurvige Bundesstraßen in die 16.000-Seelen-Gemeinde der Euroregion Neiße. Bereits 1211 verlieh Herzog Heinrich der Bärtige dem Ort das Magdeburger Stadtrecht. Das Rathaus und die Marienkirche zeugen davon, dass der Wohlstand hier zur Geschichte gehört. Goldberg lautete der deutsche Name der Stadt. Wie eine rote, solide Truhe, die einen schillernden Schatz verbirgt, hat die Fabrik für Sammler gleich drei große Geheimnisse parat. Das der Baugröße 1:87 entdecken wir in diesem ersten Bericht. Denn hinter den wie mit dem Lineal gezogenen Wänden verbirgt sich der Ort, an dem heute der Großteil an Kunststoffmodellen einer Spielzeuglegende montiert wird, deren Geschichte bis in das Jahr 1932 zurückreicht: Wiking.

Der große Name, der Generationen von Dreikäsehochs und Sammlern gleichermaßen elektrisiert hat, produziert schon lange in Polen. Wiking-Gründer Friedrich Peltzer fertigte ja zunächst vorwiegend in Berlin, Volker Sieper sah sich aber schon früh nach einem weiteren Standbein in Europa um. Zunächst ging es 1992 nach Breslau, 1995 dann bereits nach Zlotoryja. 2015 folgte der große Wurf mit dieser neuen Fabrik.

Britta Sieper: „Wir brauchten größere Kapazitäten, und wir konnten hier auf dem Reißbrett eine Fabrik entwerfen, die perfekt unseren Bedürfnissen entspricht. Und: Es gibt in diesem Raum viele gut qualifizierte Mitarbeiter.“ Winfried Neumann, Leiter Arbeitsvorbereitung bei der Sieper GmbH, unter deren Dach die beiden Marken Wiking und Siku zusammengefasst sind: „Hier kommen ein bis zweimal in der Woche die in Lüdenscheid gefertigte Kunststoffteile in die Fabrik hinein, und montierte Miniaturen gehen fast gleichzeitig hinaus. Das ist auch eine logistische Herausforderung.“ Wir halten fest: Beide Werke profitieren von ihrer Zusammenarbeit. Wegen der Erfolge in der polnischen Produktion muss Lüdenscheid mehr Kunststoffteile bauen und mehr entwickeln. Zusammen sind beide Standorte stärker als alleine. So geht Europa. Michael Knorr, Leiter der Entwicklung und Konstruktion, erklärt uns beim ausführlichen Rundgang zudem: „Deshalb ist dieses Werk vom Layout her auch rund um das Lager angeordnet. Denn hier geht Ware hinein und heraus, das ist gewissermaßen unser Puls an diesem Standort.“ Und der schlägt mit erstaunlicher Geschwindigkeit.

Jaroslaw Szymanski, der Werksleiter von Sieper Spôlka, wie die Dependance heißt, liebt seinen Job und ist stolz darauf: „Vorher habe ich in einer Fabrik gearbeitet, die Teile für die Automobilproduktion gefertigt hat. Das war nicht schlecht, aber nicht sexy. Wir bauen hier ganze Autos zusammen, auch wenn sie viel kleiner sind. Aber das ist doch etwas Schönes, das Kindern und Sammlern ein Strahlen in die Augen zaubert.“ Dieses Strahlen ist jetzt auch im Gesicht des freundlichen Direktors präsent. Die rund 140 Mitarbeiter zu organisieren, macht ihm sichtlich Spaß.

Britta Sieper: „Wiking fertigt reinrassige Sammlerartikel. Qualität spielt dabei eine überragende Rolle. Sammler schauen sehr genau hin, und die Bauteile in der Produktion sind winzig. Aber: Unsere Mitarbeiter hier zeigen bis heute eine sehr steile Lernkurve.“ Die Kunststoffteile aus Lüdenscheid werden ja bei Wiking teilweise aus Formen gefertigt, die mit Recht die Bezeichnung Oldtimer verdienen. Winfried Neumann: „Die Lüdenscheider Kollegen wissen genau, wie das geht. In wenigen Augenblicken eine Form perfekt auszuspritzen, ist auch Erfahrungssache.“ Und die Form so zu polieren, dass der eingefärbte Kunststoff nach dem Abspritzen so glänzt wie eine makellos lackierte Oberfläche, ebenfalls. Denn nur Wiking-Autos in Metallictönen werden lackiert.

Doch selbst in der hochmodernen Fabrik ist bei Wiking auch Tradition sichtbar. Etwa in Form der rüttelnden und schüttelnden Maschinen, deren Arbeit sich erst bei genauen Hinsehen erschließt. Britta Sieper: „Auch das sind Oldtimer, die Friedrich Peltzer in den Sechzigern entwickelt hat und die bis heute tadellos funktionieren.“ Die bauen gewissermaßen vollautomatisch Lkw-Achsen aus Reifen, Felgen und Metallstangen in 1:87 zusammen. Und Roman Gabinet bringt die Erfahrung für das Feintuning dieser mechanischen Geniestreiche mit, ohne die kein Wiking-Lkw auf große Fahrt gehen könnte: „Gute Pflege ist wichtig, damit alles perfekt klappt. Warum soll man das jetzt neu erfinden? Es funktioniert doch.“ Unermüdlich fügt die Maschine A3 währenddessen Achsen für den neuen ASG-Scania zusammen. Auf ihr klebt ein orangerotes Wiking-Logo aus einer vergangenen Epoche.

Doch in Niederschlesien wird nicht nur von wieselflinken Händen exakt zusammengebaut, was später einmal als 1:87-Traumwagen im Regal parkt. Auch für die Dekoration der Winzlinge zeichnet das Werk verantwortlich. Michael Cilius schwirrt eifrig zwischen den Druckmaschinen hin und her, er ist gewissermaßen Chefalchimist bei Wiking und erklärt uns mit unverwechselbarer Berliner Sprachfärbung: „Bedruckung ist so etwas wie physikalische Chemie. Unterschiedliche Farben, wechselnde Humidität und Temperatur – das sind viele verschiedene Komponenten, die zueinander passen müssen. Auch hier brauchen Sie eine gute Portion Erfahrung.“ Bedruckt wird in Polen hauptsächlich im Tampondruck. Bedeutet: Ein weicher Stempel nimmt die Farbe von einem maßgeschneiderten Klischee auf und platziert sie genau an der Stelle, wo sie gebraucht wird. So entstehen Zierleisten oder auch Seitenblinker und vieles mehr bis hin zu mehrfarbigen und sehr ausgefeilten Werbebedruckungen. Grzegorz Kotylak macht diese Herausforderung für ein 1:87-Modell deutlich: „Wir arbeiten hier mit einer Genauigkeit, die bei Millimeterbruchteilen liegt.“ Er zeigt uns einen frisch bedruckten Volkswagen T1 als Lieferwagen „VW-Service“ in Taubenblau und Orange. Wir glauben es ihm aufs Wort.

Aber: Auch die Zukunft in Sachen Bedruckung hat bei Wiking begonnen. Sorgsam fixiert Michael Cilius eine Wiking-Straßenbahn-Karosserie neben der anderen auf einer Montageeinrichtung, bis sich ein großes Rechteck aus Trambahn-Bodys ergibt. Plötzlich stülpt sich eine Maschine darüber, und ein kleiner Schlitten fährt langsam von links nach rechts. Das Geräusch kennt jeder: Es hört sich an wie ein Tintenstrahldrucker, und genau das ist diese Maschine auch, allerdings ein ganz besonderer. Cilius: „Wenn Sie mit einem Tamponstempel drucken, brauchen Sie Klischees, damit die Farbe an der richtige Stelle landet. Das ist sehr aufwendig und macht erst ab einer gewissen Stückzahl Sinn. Mit dem Tintenstrahldrucker sind wir da viel flexibler.“ Während er uns das erzählt, haben einige der Straßenbahnen wie von Geisterhand auf der einen Seite komplett und konturenscharf eine Magenbitter-Werbung erhalten. Aber, und das ist in der Wikingfabrik eben auch immer sichtbar: Hier geht es einfach nicht ohne Handarbeit der virtuosen Art. Wie schwierig es ist, ein Wikingauto wirklich komplett zusammenzubauen, zeigt ein Selbstversuch. Egal ob weißes T-Modell der aktuellen Generation oder weinrote Heckflosse: Der Autor scheitert kläglich daran. Schon weil seine Fingergröße nicht zu den Abmessungen der 1:87-Teile passen will. Wer einmal erfahren hat, wie schwierig es ist, einen Mercedes-Stern exakt in einem Kühler zu befestigen oder eine Rückleuchte an den richtigen Platz zu stecken, der wird so ein winziges 1:87oder gar 1:160Modell in Zukunft mit ganz anderen Augen betrachten.

Britta Sieper: „Wir sind hier genau an dem Punkt, wo die Wiking-Qualität entsteht. Sie müssen ja nicht nur eine Mercedes-Heckflosse exakt zusammenfügen, sondern Hunderte in gleichbleibender Qualität. Dazu brauchen wir hier kompetente Mitarbeiter, die auch permanent lernen müssen. Denn: Jedes Modell ist dann doch etwas anders.“ Und Wikings Entscheidung für Goldberg respektive Zlotoryja war vor allem eines: goldrichtig.