Ulrich Biene
· 26.09.2025
Der Mercedes-Benz 300 SL Roadster mit Kedzierski-Handschrift ist wieder da! Auch die letzte vermisste Form für die Windschutzscheibe des Wiking-Klassikers tauchte wieder auf. Zuletzt war die Miniatur vor 56 Jahren ausgeliefert worden. „Der Roadster ist eines der wenigen Modelle, die über eine solch lange Ruhezeit nicht wieder in Sammlerhand gelangen konnten“, erzählt Wiking-Prokuristin Ute Schleisiek. Die Suche glich einer Sisyphusarbeit, ehe das passende Bauteil wieder dingfest gemacht werden konnte.
Wenn es darum ging, die Jungen der sechziger Jahre zu belohnen, waren es die Traumautos, die zuallererst in die Hosentasche wanderten. Der 300 SL Roadster zählte zweifellos dazu. Er prägte das erste Jahrzehnt der verglasten Wiking-Ära, galt als edles Cabrio und knüpfte an die Erfolgsjahre des bereits 1960 vorgestellten Flügeltürers an. Wiking-Chef Fritz Peltzer hatte seinerzeit veranlasst, die unverglaste Karosserie des 300 SL umzubauen und sie standesgemäß mit einer Verglasung aufzuwerten. Dabei bediente man sich der schlichten, fast gravurfreien Bodenplatte. Das sollte sich 1962 mit dem Auftrag Peltzers an seinen Modellbaumeister ändern. Alfred Kedzierski schuf die offene Roadster-Karosserie mit den feinen Gravuren für Lüftungen, Sicken und Zierrat an den Flanken neu. Hinzu kamen der markant herausgearbeitete Kühlergrill und als weitere Bauteile Interieur und Frontscheibe. Undnatürlich zählte eine gravierte Bodenplatte dazu. Typisch Kedzierski: Damit das für die Cabrio-Optik unverzichtbare Lenkrad andersfarbig gespritzt werden konnte, sah er in der Frontscheibe eine Einkerbung vor. Um den Traumautocharakter zu unterstreichen, schuf der Wiking-Modellbaumeister ein Personenpärchen, das im Zweisitzer Platz fand. Beim Industrieauftrag für Mercedes ging es puristischer zu. Im Präsentkarton mit den anderen Typen wurde der Roadster „unbemannt“ ausgeliefert.
Warum gab es den Mercedes-Benz 300 SL Roadster nur sieben Jahre – und dann nie wieder? Es lag vor allem an der hausinternen Wiking-Konkurrenz durch das populäre 190 SL Cabrio. Vielleicht auch am Preisunterschied! Für 60 Pfennig waren das 190 SL Cabrio und der Flügeltürer zu haben – der schmucke Roadster raubte gleich 20 Pfennig mehr vom Taschengeld.
„56 Jahre lang mussten Sammler auf diese Preziose verzichten – es wurde höchste Zeit“, ist Ute Schleisiek zufrieden mit der Revitalisierung des SL. Die Suche nach dem Roadster dauerte mehrere Jahre. Der Wiking-Formenfundus bleibt zwar ein großartiger Schatz, der aber immer noch manches Geheimnis bereithält. „Wir waren beim Öffnen überrascht, in welch gutem Zustand die Formen erhalten sind“, sagt der Leiter der Kunststoff-Spritzerei, André Lemke. Und: Entdeckungen sind immer noch möglich. Damit erklärt sich, warum die Fensterverglasung bei der Suche so lange auf sich warten ließ.
Volker Sieper, der 1984 das Ruder bei Wiking übernommen hatte, lenkte frühzeitig seinen Blick auf den 300 SL. Sieper strebte eine völlige Neukonstruktion an – für den Roadster und den Flügeltürer. In einem Geheimprojekt brach Wiking 1990 zu neuen Ufern auf: Der 300 SL Roadster wurde angekündigt und sollte im Jahr darauf mit viel Detailreichtum aus der Taufe gehoben werden. Verchromte Stoßstangen und Kühlergrill wurden separat eingesteckt, sogar die Motorhaube ließ sich öffnen! Durch die Sammlerszene ging ein wohlwollendes Raunen. Drei Jahre später erblickte der neu miniaturisierte Flügeltürer das Tageslicht – diesmal mit galant aufschwingenden Türen. Heute gibt es deshalb gleich zwei Duos des Klassikers: eines aus alten und eines aus neuen Formen.