Ulrich Biene
· 29.03.2023
Frontlenker hatten es bei Mercedes und W iking schwer gegen Hauber. In 1:87 und den Sechzigern begann dann doch die „Pullman“-Ära der Peltzer-Marke.
Mercedes-Benz hatte Strahlkraft – auch für Wiking schon früh. Selbst wenn die Geschäfte gleich nach der Währungsreform 1948 mit Büssing besser liefen. Schließlich ging es Fritz Peltzer von Anfang an auch um das Industriegeschäft. Peltzer wollte jene Werbeaufträge nach Hause holen, die mit veritablen Stückzahlen halfen, die verdammt teuren Stahlformen zu amortisieren. Dennoch bewahrte sich der Wiking-Gründer das Auge fürs Ganze, blickte auf die gesamte deutsche Automobilindustrie und damit Verkehrswelt der Fünfziger, die dank Wirtschaftswunder zu boomen begann.
Das Thema Pullman startete Wiking Ende der Fünfziger. Peltzer bevorzugte früh den Pullman-Bus von Mercedes und hatte dem Stromlinienbus der ersten Stunde daher den O 6600 H folgen lassen. Zwar war das Holzmuster eines MAN-Hauber-Busses bereits verabschiedungsreif auf den Peltzer-Schreibtisch gelangt, doch der Pullman-Bus wirkte stärker und moderner. Dieser Effekt wurde noch forciert, weil der erste Postbus „71“ mit zweiachsigem Personenanhänger unterwegs war. Doch in Wahrheit hatten es die Frontlenker im Lkw-Verkehr schwerer – bei Mercedes-Benz wie Wiking. Lediglich der Büssing 4500 war bereits ohne Verglasung ins Modellprogramm gefahren. Wiking-Freunde wissen, dass es der Büssing 12.000 damals nicht über das Holzmuster von Modellbauermeister Alfred Kedzierski hinausschaffen sollte.
Doch das Blatt wendete sich mit der Neuausrichtung 1958 – die Frontlenker gewannen mit Einführung der verglasten Karosserien bei Wiking an Einfluss. Ganz gleich, welches Vorbild der gelernte Tapezierer und Modellbauer aus Berufung Alfred Kedzierski in den „angenäherten Maßstab 1:90“ miniaturisierte – es wurde ein Treffer. Mit den Verglasten wuchs die Vorbildnähe. So gelang dem kongenialen Duo aus Wiking-Chef Fritz Peltzer und seinem Modellbaumeister Alfred Kedzierski gleich 1958 der große Coup: Zur Spielwarenmesse wurde der Ackermann-Möbelkofferzug vorgestellt. Es war die Wiking-Premiere der Pullman-Generation von Mercedes-Benz.
Wenn sich das Gesicht mit charakteristischem Kühlergrill-Oval nur verschämt in der geschlossenen Karosserie zu erkennen gab, so wirkte der mächtige Hängerzug nach dem Vorbild der Wuppertaler Karosseriebauer von Ackermann trotzdem progressiv. Schließlich dominierten zeitgleich die großen Hauber wie Krupp Titan oder Büssing 8000, aber auch die von Magirus, Mercedes-Benz und Henschel gaben im Programm den Takt an. Ohne großes Aufheben schrieb Wiking die Chronologie der Pullman-Lkw in H0 fort: 1960 folgte die Pullman-Zugmaschine mit kleinem Fahrerhaus und zog den einachsigen Kofferauflieger ins Programm. Zugleich besetzte der Mercedes LP 321 als Pritschen-Lkw die Gewichtsklasse darunter.
Der längst bekannte Pullman-Bus erhielt 1961 in der verglasten Version ein neues, zweites Wiking-Leben. Hinzu kam der Mercedes L 319, der seinem großen Vorbild aus Düsseldorfer Produktion folgte und für das „kleine“ Pullman-Gesicht stand. Warum Pullman ohne ein zweites „n“? Der Name entstammt der US-Eisenbahngeschichte, denn die „Pullman-Trains“ standen dort für die modernen, luxuriösen Personenzüge des Erfinders George Mortimer Pullman. Na, das passte doch bestens. Bei Mercedes unterschied die Lkw-Sparte in der Typenbezeichnung zwischen „L“ für Lastwagen mit Haube und „LP“ für Frontlenker-Lastwagen mit Pullman-Design.
Mit den Frontlenkern hatte Fritz Peltzer strategisch die Weichen für unzählige Variationen gestellt. Erst als das kubische Fahrerhaus aus Berliner Wiking-Formen purzelte, wurde langsam, aber sicher das Ende der Pullman-Ära eingeläutet. Das ambitionierte Investment in so viel Formenstahl kam nicht von ungefähr. Wiking-Chef Fritz Peltzer war es in der Zwischenzeit gelungen, Mercedes-Benz als Industriekunden zu gewinnen. Der Stern hatte es in der Automobilindustrie längst zum Full-Liner gebracht. Von der Limousine über den Unimog und Transporter bis hin zum Sattelzug und Bus stellten die Stuttgarter alle Fahrzeugkategorien bereit.
Und so fiel der Industrieauftrag opulent aus. In einer Klappbox wurde ein Modell-Querschnitt präsentiert – erst zehn Miniaturen, später sieben. Dieser Auftrag machte den Modellbauern Spaß. Und das über immerhin drei Jahrzehnte hinweg. Bis heute sind eine Reihe wunderschöner zeitgenössischer Pullman-Miniaturen entstanden, die sich gerade wieder aus revitalisierten Formen ungeheurer Beliebtheit erfreuen. Da ist der Transporter L 319 inzwischen als fein dekorierter, manchmal gar mit Gardinen bedruckter Kleinbus zu sehen, oder das kurze Pullman-Fahrerhaus erlebt als Zugmaschine mit Kurzpritsche seine Wiedergeburt.
Wiking selbst trug seinen Anteil zum Erfolg bei und bewies ein glückliches Händchen im Vollzug der Sammlerwünsche. So feiert der Pullman LP 333 als „Tausendfüßler“ in diesem Frühjahr als frisch-grünes Fünfachser-Gespann aus jungen Formen einer Wiederkehr mit der Fernfahrerkabine. Die Kombinationen machen heute den Unterschied und setzen Akzente. Ganz gleich ob als vorbildgerechte Speditionsfahrzeuge à la Freyaldenhoven, Carl Balke und Georg Stelzer oder als Tankfahrzeuge für BP und Esso. Dass die damaligen Stahlformen vom Transporter bis zum Koffersattelzug heute große Wertschätzung erfahren, liegt am neu gewachsenen Interesse für die Lkw-Historie. Einst verschmäht, heute geliebt – für eine Würdigung ist es nie zu spät.