Andreas A. Berse
· 30.01.2024
Herbert von Karajan fuhr ihn, Udo Jürgens liebte ihn, und WikingSammler huldigen ihm – dem Mercedes-Benz 600. Vor 60 Jahren wurde der „große Mercedes-Benz“ auf der IAA in Frankfurt vorgestellt. Zwischen dem Deutschland-Besuch John F. Kennedys und kurz vor seinem eigenen Rücktritt begutachtete Kanzler Konrad Adenauer auf der IAA 1963 die imposante Neuvorstellung, sollte aber nicht mehr in den Genuss der kühlergewaltigen Edel-Limousine kommen. „Der Alte“, der vornehmlich mit dem 300er, dem „Adenauer“, unterwegs war und schon früh bei Mercedes-Benz den sage und schreibe 70 Zentimeter längeren 600er eingefordert hatte, fand bei der Vorstellung in den letzten Tagen seiner Kanzlerschaft lobende Worte. Wie die Wiking-Sammler, als Fritz Peltzer das 1:87-Modell 1966 präsentierte. Wie in 1:1 war bis dahin auch bei der Marke Wiking keiner der miniaturisierten Pkw von Mercedes-Benz größer und schon gar nicht länger.
Die staatstragende Karosse des 600ers fügte sich als Pkw-Flaggschiff nahtlos ins Programm ein. Während Modellbaumeister Alfred Kedzierski das Vorbild bereits 1965 in seiner UrForm miniaturisiert hatte, war es der Wiking-Chef selbst, der im modellbauerischen Premierenjahr auf dessen unübersehbaren Vorzeigestatus setzte. Im Spätherbst nahm Fritz Peltzer persönlich das Schwarzweißfoto des Silberlings, um ihn für das Bildpreislisten-Layout freizustellen. Dann platzierte er das Katalogbild ganz oben auf dem Titel, ehe der sechsseitige Prospekt auf der Nürnberger Spielwarenmesse seinen Auftritt hatte. Im Abbildungsmaßstab 1:1 wirkte der gedruckte 600er auf den Betrachter ungewöhnlich lang. Diese imposante Staatskarosse hatte eben eine außergewöhnliche Platzierung verdient. Der 600er war Nachfolger des 300ers (W 186/189) von Wiking. Die Limousinen, Coupés oder Cabrios aus Sindelfingen genossen bei den Fans eine unvergleichliche Wertschätzung. Fritz Peltzer folgte aber auch den verlockenden Stückzahlen der Industrieaufträge, die verlässliche Umsätze in die investitionsgebeutelte Kasse von Wiking spülten.
Inmitten der Stern-Nomenklatur war der Mercedes-Benz 600 ein neuer Fixstern. Das Wirtschaftswunder der Bundesrepublik hatte die Stuttgarter selbstbewusst werden lassen – eine Staatskarosse von internationalem Renommee musste her. Der V8-Einspritzmotor hinter dem Kühlergrill leistete respektable 250 PS, lag damit auf Sportwagenniveau. Das Automatikgetriebe verstand sich deshalb von selbst.
Als im September 1964 die Serienfertigung des 600ers begann und in Jahresfrist 99 kurze und weitere 600er als Pullman mit langem Radstand aus der Manufaktur-Fertigung rausrollten, hatte Fritz Peltzer seine Entscheidung längst getroffen. Deshalb ging es für damalige Wiking-Zeiten schnell. Fahrgestell, Inneneinrichtung, Verglasung, Karosserie – und dazu noch transparente eingesteckte Scheinwerfer. Mehr ging nicht! Anders als sein augenfällig hoch gebautes Vorbild wirkte das WikingModell von Anfang an etwas gestaucht. Die Karosserie hätte durchaus zwei Millimeter mehr Höhe vertragen. Doch das eiserne PeltzerPrinzip der gegenseitigen Verhältnismäßigkeit der Miniaturen schränkte Meister Alfred Kedzierski in seinem kreativen Tun ein. Das Wort des Chefs war bei Wiking in jenen Jahren Gesetz! Nur gut, dass die Traditionsmodellbauer den revitalisierten Miniaturen auch in der jüngsten Auslieferung üppigen Chromzierrat rund um die Verglasung spendieren. Der 600 wirkt so noch staatstragender.
Als der Neue bei Wiking 1966 aus den Formen purzelte, hatte Konrad Adenauer längst abgedankt, und Ludwig Erhard als Vater des Wirtschafts-wunders stieg bei Staatsbesuchen in die neue Großlimousine. Ansonsten erfreute sich Erhard des MercedesBenz 300 SE (W 111) als „Daily Driver“. Wiking bildete den Fuhrpark im Zeichen des Sterns zu dieser Zeit typengerecht ab: Acht Mercedes-BenzPkw hielten die damals in Berlin ansässigen Modellbauer im Premierenjahr des 600ers bereit. Die Bildpreisliste lässt heute keinen Zweifel daran, dass der frühe Adenauer-Benz, aber auch der 220 S für Programmaktualität sorgten.
1972 sollte der 600er dann aus dem Programm verschwinden, ehe er 1976 gar als ausgerufene Neuheit ins Sortiment zurückkehrte – zur gleichen Zeit wie der Golf I und der Volvo 264. 1980 und 1981 erfuhr der Mercedes 600 in der Bildpreisliste wegen einer unvermeidbaren „FormenReparatur“ eine Streichung, seine Stahlformen wanderten danach auf Nimmerwiedersehen ins Archiv. Anders als der Adenauer-Benz, den das gleiche Schicksal einer „Revision“ ereilen sollte. Dieser kehrte jedoch ins Programm zurück – um wie kaum ein anderer Pkw die Peltzer-Ära bis 1988 zu überdauern. In der Zwischenzeit hatten es Helmut Schmidts 450 SE (W 116) und Helmut Kohls Limousine 500 SE (W 126) ins Wiking-Programm geschafft. Der 600er hingegen kam lange Zeit nicht zurück, um Jahre später von der Klassikernachfrage wachgeküsst zu werden. Wiking-Freund Reinhard Mey, der einst den staatstragenden Auftritt des Vorbilds ebenso genoss wie Mireille Mathieu, hätte sicher wieder Spaß am großen Mercedes-Benz. Diesmal in Klein.